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III. Ausflüge in die Welt der Zeichen - Beispiele für ästhetische Entwicklungen


A. Mode als Avantgarde-Medium

B. Die chamäleonartige Wandlung der S-Klasse



A. Mode als Avantgarde-Medium

1.   Der Vorteil des Immateriellen 

 

„Die Mode ermöglicht einen sozialen Gehorsam, der zugleich individuelle Differenzierung ist.“

(Georg Simmel, in: Poschardt 1998, S. 51 )

Mode belässt in ihrer Unverbindlichkeit alle Möglichkeiten zur technischen Kreation und Innovation und entspricht als ästhetische Technik der Kunst, die in ihrem ideellen Endprodukt, alle Möglichkeiten zur Dekodierung, zur Ablehnung oder zur Umformung zulässt. Bei der Mode und bei der Kunst ist ein Individuum nie auf eine bestimmte Rolle als Konsument oder Produzent festgelegt, sondern diese beiden Handlungstypen, die in der materiellen Welt der Warenwirtschaft klar definiert sind, vereinigen sich hier.

Mode ist das Medium, welches mit seiner physischen Nähe zum Körper, die durch die Untrennbarkeit zur Symbiose wird, am ehesten dazu geeignet ist, der menschlichen Existenz eine Ko-Existenz zu entwerfen, welche die nackte Existenz kooptiert und zur wahren und eigentlichen Existenz aufsteigt. Mode beweist der gesellschaftlichen Ordnung durch ihre eindeutigen Zuschreibungen und Herkunftsnachweise ihre unmittelbare Nähe zur Ikonographie der Stabilität. So lässt „ein Blick auf die Kleidung durchaus atmosphärische Schlüsse auf das kulturelle Leben, die sozialen Verhältnisse, den Pluralismus und die Freizügigkeit sowie auf die soziale Mobilität eines Landes zu“ (Piedboeuf 1991, S. 122).

Selbst wenn Mode als Ausdruck des Protests und der Provokation aufwarten soll, der Selbstdarstellung dient oder Zugehörigkeiten vermittelt, bringen die Protagonisten darin immer die eindeutige Vormachtstellung des gesellschaftlichen Systems zum Ausdruck. Kein Protest mittels ästhetischer Differenzierung kann jemals Protest sein, wenn nicht alle Beteiligten (also die Protestler und die Nicht-Protestler) wissen, auf welchen (ästhetischen) Standpunkten die Gesellschaft basiert. Selbst Revolutionäre und Dissidenten machen der bürgerlichen Mitte den Hof, wenn sie sich gegen diese auflehnen.

Mode als Symbiose von Stofflichkeit und Botschaft ist daher abhängig von dem gesellschaftlichen Konsens über die kulturellen Zeichen. Im heutigen salonfähigen Kontext von ästhetischer Differenz, kurzfristigen ökonomischen und kulturellen Strömungen und stilisierten Mikrokosmen lautet daher das paradoxe Dogma: Je individueller man wird und je mehr man die eigene Abweichung kultiviert, desto mehr gehört man dazu und desto mehr beweist man seine Abhängigkeit von der Gemeinschaft. „Jeder ist so wie niemand und deswegen so wie alle“ (Terkessidis 1999, S. 24).

Denn schließlich bezieht die Mode heute ihre Stärke daraus, dass die pausenlose Arbeit am eigenen Selbst nur dann Sinn macht, wenn der Vergleich vor Publikum die gewonnene Individualität bestätigt. Der Kapitalismus profitiert von dem Wunsch der Lebensästheten nach individuellen Biografien, indem er ihnen anbietet die Konsumprodukte mit dem eigenen Selbst zu verschweißen und somit zum Teil der eigenen Lebensgeschichte zu machen. Bestimmte Konsumartikel werden zu Trend- und Modeartikeln, wenn sie als Fetischobjekte in den ästhetischen Mikrokosmos der privaten Innerlichkeit passen.

Die Gleichheit der Gesellschaft besteht darin, dass alle darin befindlichen Individuen immer tiefer in ihre eigenen Mikrokosmen eintauchen, um dann diese Mikrokosmen in äußeren Hüllen (T-Shirts, Klamotten, Puppen, Janosch-Figuren, Hausschuhe in Kuhform) in der Öffentlichkeit darzustellen; in einer Öffentlichkeit, die aus lauter Privat-Politikern besteht. Der gesellschafts-politische Horizont der Privat-Ego-Eigentümer beschränkt sich auf die Abgleichung der Zeichen- und Konsumsphäre mit den äußeren Hüllen der anderen Privatästheten. Politik heißt heute daher, sich selbst - möglichst naturgetreu zu seiner Lebensvorstellung – in der eigenen Kontrolle über die Klamotten von Kopf bis zu den Füßen, 60 Quadratmeter Wohnfläche, Garagenstellplatz und Kellerraum zu beweisen.

Dennoch bieten sich gerade in der Mode Möglichkeiten zur Neuorientierung durch Konstruktion und Dekonstruktion von Wertevorstellungen, wodurch implizit der Widerstand gegenüber den jeweiligen Paradigmen ausgedrückt wird. „Die Mode – genauer gesagt: die Orientierung des Lebens an ihr – wird um so unvermeidlicher, je unabhängiger unsere Zukunft von unserer Herkunft wird“ und so ist die Mode in ihrer Funktion als Kontextarbeit „immer auch ein Stück Umwertung der Werte in der Phantasie“ (Bolz 1995, S. 202).

So wird in den Modezyklen ständig reflektiert, neu geordnet, gesampled, recycelt und mit dem Überlieferten und Vorhandenen gespielt. Mode als Kulturtechnik gleicht den gesellschaftlichen Leistungen der Musik, der Kunst und der Kultursemiotik; eingebunden in die Produktion der kapitalistischen Struktur beweisen Unternehmen aus dem avantgardistischen Modebereich ihre Fähigkeit zur dialektischen Auseinandersetzung zwischen ökonomischer Integrität und kulturellem Nonkonformismus. In der Uneindeutigkeit der Aussagen liegt das Interessante der Mode; im Endeffekt liegt ihre Borniertheit nur noch an der Last des Materiellen/des Stofflichen.

Der Beschränkung, einer Warenform als tendenzieller Massenproduktion verhaftet zu sein, die mit den individuell und zeitspezifischen Wünschen der selbstbestimmenden Konsumenten mitkommen muss, hat sich die Mode bisher zwar als resistent erwiesen. Jedoch war und ist dies nur mit immensen kommunikativen Zusatzbotschaften möglich, welche die vermeintliche Andersartigkeit der Modeprodukte ausdrücken sollen.

So gehen Modemarken nun, wie auch die Marken der übrigen Branchen, das Risiko ein, in ihrer inauthentischen Inauthentizität von den Konsumenten mit „Kaufhaus-Kram“ (o.V. 2000b (Frontline Winter 2000), S. 2) in Verbindung gebracht zu werden. So ist es fragwürdig, inwiefern Verweigerung und Zerstörung als Produkte menschlicher Arbeit zur authentischen Ware werden können, wenn die Kommunikation der Warenhersteller affirmativ und explizit immer wieder auf die tatsächliche Authentizität hinweisen muss. Die Zeichen und Symboliken funktionieren jedoch nicht als aufdoktrinierte Botschaften; schnell dekodieren die Konsumenten die vorgeblich rebellischen Modemarken als genauso systemkonform wie alle anderen Massenmarken.

Spätestens wenn Modemarken für Insider, wie zum Beispiel das Label Carhatt, welches die Authentizität des Ghettos Downtown Detroit darstellt, nicht mehr wie ehedem nur von den Außenseitern in Detroit für die Außenseiter in Detroit gemacht wird, sondern nun auch in der exklusiven Warenwelt der Insiderboutiquen und Szenediscos des globalen Mainstream auftaucht, stellt sich die Frage, inwiefern die Ideologie des Labels nicht von der kapitalistischen Warenideologie entkräftet wird (vgl. Frontline Winter Katalog 2000, S. 4).

Die Ware musste als Ware gegen Tabus angehen, um dann beweisen zu können, dass das Tabu, wenn zur Warenform geronnen, auf dem Ladentisch landet“ (Poschardt 1998, S. 280). Und wenn noch dazu die Protagonisten der ehedem radikalen Rap-Szene, wie die Niggers with Attitude nun bekräftigen, „wir machen Platten nicht zum Spaß, sondern für Geld“ (NWA, in: Mayer 1996, S. 158), lässt sich die kulturelle Begeisterung für eine authentisch aufmüpfige Sub- und Modekultur nur schwer aufrechterhalten. Es scheint verständlich, wenn die politische und gesellschaftliche Signifikanz der kulturellen Zeichen schlechthin in Frage gestellt wird.

Unweigerlich fallen mir in diesem Zusammenhang die austauschbaren Schuhhandelsketten in den Fußgängerzonen beliebiger deutscher Groß- bis Kleinstädte ein. Jene Verkäufer eines imaginären coolen Stigma namens Country- & Western-Look auf den Pfaden Madonnas, die tatsächlich Cowgirlstiefel aus Schlangenlederimitat und geklebter Gummisohle und mit Fußbett für DM 49,90 verkaufen. Ob bei Mayer Schuhe oder bei Görtz präsentieren sich die angebotenen Stiefel, kulturell betrachtet, als Leerstellen, als schnellgefertigte und austauschbare Güter, die nur durch die Projektionen der Käufer Sinn und Inhalt erhalten – nothing into something.

2.   Avantgarde und Vergänglichkeit

Es wurde deutlich, dass es einfach ist, coole Zeichen zu Ladenhütern bzw. zu absolut uncoolen Zeichen werden zu lassen. Hierfür sorgen, wie im obigen Beispiel dargestellt, die massenhaften Adaptionen seitens der Unternehmen, die auf die massenhafte Ideenlosigkeit der Konsumenten zählen können. Wie steht es also um die Möglichkeiten, den Zustand Avantgarde herzustellen? Ist dieses Feld  den Künstlern und den Subkulturen vorbehalten, oder kann jeder seine eigene Coolness herstellen, so dass die individuelle Differenz ganz von einem selbst kommt.

Setzt man sich der Lächerlichkeit aus, weil die anderen mit den Zeichen, die man selbst produziert hat, nichts anfangen können? Macht also künstlerische Kreativität erst dann einen Sinn, wenn die ästhetische Individualität erklärt wird? Liegt der einzige Unterscheid zwischen Kunst und Mode darin, dass der Künstler in seinem Schaffen unabhängig von den Dekodierungsanstrengungen des Publikums bleibt, indem er seine Produkte nicht erst an den Anderen beweisen muss, und dass das Modische erst dadurch attraktiv wird, dass das Publikum die Mode vergleicht und bewertet?

Abbildung 15: Handy Capt. – Vorderseite T-Shirt (Entwurf)   Quelle: eigenes Foto

Ein erstes Bild: Die quasi „Anlage“ dieses Aufsatzes bildet eine Kleiderkreation, die ausgehend von dem gutartigen Klassiker Weißes T-Shirt - in einem 1-minütigen Ansturm der Kreativität – geschaffen wurde. Ob der Entwurf dieses T-Shirts nun in einen künstlerischen oder modischen Kontext mündet, bleibt der Eigendynamik des Konzepts und den Dekodierungsanstrengungen aller Beteiligten überlassen. Einmal in den Vergleich mit den anderen Dingen eingebunden, wird die Kreation schnell vergänglich werden und irgendwann ganz unten im Stapel der T-Shirts von Milben zersetzt werden. Obwohl es genauso schützt und Wärme gibt, wie die anderen Klamotten. Vielleicht wird es auch zur Kunst und damit potentiell zur Kapitalanlage.

Abbildung 16: ANOMY – Rückseite T-Shirt (Entwurf)    Quelle: eigener Entwurf

ANOMY

 

 

 

Trotz einfachster technischer und materieller Herstellung könnte das T-Shirt aufgrund seiner Ideenkraft und Ambivalenz locker zur Avantgarde des nächsten Sommers werden. Oder ist das ganze schon nicht mehr möglich, weil es gerade zum Thema gemacht wurde? Ist es dadurch bereits jetzt langweilig geworden, oder wird es erst dann langweilig, wenn versucht wird, es zu bügeln?

Ein letztes Bild: In einer imaginären Performance mit dem Titel Paper-Cloth werden Kleider aus Papier verkauft. Die Boutique, in der die Papierkleider angeboten werden, gleicht allen anderen Läden in den Fußgängerzonen. Aber wenn man in die Paper-Cloth Boutique hineinkommt, stellt man fest, dass alle angebotenen Kleider aus labilem Baumwollkrepp-Papier (ähnlich dem Papiertaschentuch) bestehen. Ordentlich aufgereiht auf Kleiderstangen, in allen erdenklichen Farben bietet sich hier für jeden etwas an: Hosen, Blusen, Jacken, T-Shirts, natürlich zu entsprechenden Preisen. Alle Kleider sind zu 100% recyclebar und weder schwitz- noch regenfest, so dass die Klamotten nicht mehr als 10 - 12 Stunden tragbar sind, und dann weggeschmissen werden müssen oder aber gesammelt werden können. Durch den Verkauf des absolut Vergänglichen und Nutzlosen wird die Aufmerksamkeit der Kunden und der Zuschauer vom Produkt auf die Transaktion selbst gelenkt. Denn die Papierkleider müssen durch ein spezielles Zusammenheftverfahren auf den Körper angebracht werden. Simples Anziehen wird also ersetzt durch ein Anziehen als Kunstform, nämlich unter Betreuung: Nachdem der Kunde ein Papiermodell ausgesucht hat, wird das Kleidungsstück von dem Boutiquenpersonal "maßangegossen" an den Körper angebracht, denn aufgrund der Fragilität des Materials ist ein simples selbstständiges Anziehen über den Kopf nicht möglich. Paper-Cloth wird also unmittelbar nach dem Aussuchen bzw. gleichzeitig mit dem Kauf auch sofort getragen. In diesem Fall nimmt man an einer Transaktion teil, die sehr viel mehr über das eigene Verlangen nach kultureller Selbstsetzung aussagt als über das erworbene Produkt. Bei genauerer Betrachtung erweist sich Differenz (oder die Hipness der Mode) schnell als sinnentleertes System eigener Art, als ideelle Ware, die am Körper zu zerfallen droht – something into nothing. Die Flüchtigkeit der kulturellen Zeichen vereinigt sich mit der Vergänglichkeit der Ware. Nun geht es nur noch darum, ob sich zuerst der ideelle oder der materielle Teil der Ich-Performance auflöst.

 

B. Die chamäleonartige Wandlung der S-Klasse

Anhand des Beispiels Mercedes-Benz S-Klasse soll im folgenden verdeutlicht werden, wie ein Unternehmen bei der ästhetischen Fortführung eines ihrer Produkte die Relevanz des Kulturellen erkannt hat. Ob diese Erkenntnis in einem absichtlichen oder eher unbewussten Prozess entstand, scheint eher unwichtig. Dazu sind in der Zwischenzeit zu viele verschiedene Entwicklungen, wie der politische Umbruch, der Misserfolg der alten S-Klasse und die damit verbundene Infragestellung der bisherigen Prämissen, oder der Wandel vom Industrie- ins Service-Zeitalter passiert.

Jedoch ist klar, dass sich die gesellschaftlichen Bedingungen verschoben haben: die alte S-Klasse bot als Renovation der bisherigen Umstände das übliche Credo eines „alles muss solide sein, dauerhaft und schwer“ (Horx 1995, S. 358) und stellte sich selbst in den Mittelpunkt. So genügte die „fahrende Burg“ (ebd.) sich selbst, und in der Kommunikation nach außen, die eigentlich das Außen ignorierte und eher mit sich selbst kommunizierte – ähnlich einem Wiederkäuer -, gab es keinen Raum für die Abgleichung mit gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Entwicklungen.

Abbildung 17: Gruppenfoto 1: Alle S-Klassen von 1955 bis 1998   Quelle: http://www.mb-w140.de

 

Alles sollte so bleiben, wie es schon immer war: Die präzisen, ordentlichen und fleißigen Werte eines Adenauer (dessen Namen die erste S-Klasse trägt) sollten in einem selbstvergessenen Kollektivorgasmus schwäbischer Feinmechaniker das Ghetto der Weltspitze ästhetisieren. Für die S-Klasse gab es aber nun ein Problem: Bei den Adressaten fehlte das Bedürfnis für solcherlei größenwahnsinnige Botschaften, sie verstanden die Idee des Produkts als Antikonversation, die mit ihnen nichts zu tun hatte; so gab es auf Werbeanzeigen „nie einen Mercedes-Fahrer“ (Horx 1995, S. 360), mit dem die eigenen Gefühle und Träume abgeglichen werden konnten.

 Abbildung 18: Innenraum der alten S-Klasse  Quelle: http://www.mb-w140.de

Die alte S-Klasse war als   Versinnbildlichung menschlicher Erlebnisse nur von Menschen „im dunkelgrauen Dreiteiler oder im hellgrauen Anzug“ (o.V. 2000c),   Mafiachefs „in Fernost und in den GUS-Staaten“ (Schröder 2001) oder Guerillakämpfern „in Taiwan und Malaysia“ (ebd.) nachzuvollziehen, von Menschen also, die sich durch ihre Existenz in geschlossenen

Zirkeln zwangsläufig als die Größten betrachten, und die Entwicklungen außerhalb ihrer Bereiche nicht zu kennen brauchen.

Abbildung 19: Alte S-Klasse von vorne      Quelle: http://www.mb-w140.de

 

Während Mercedes-Benz mit der alten S-Klasse aus den 80er Jahren noch versucht hat, die ideologisch- autoritäre Reichweite ihres Vorzeigeprodukts in einer immer unsichereren Welt der Bedrohungen als invariable ästhetische Ikone für die bürgerlichen Eliten zu legitimieren, löste sich die neue S-Klasse als kreative Interpretation neuer Werte, wie Dynamik, Flexibilität und Weltoffenheit, von der Selbstzuschreibung ihres Vorgängers. Während die alte S-Klasse vehement versuchte, jeglicher Diskussion um ihre Gestalt aus dem Weg zu gehen, inszenierte sich die neue S-Klasse als diskursives Interpretationsforum zum Thema Ästhetik und bot, indem sie um Verständnis und um Verständigung bat, der Menschlichkeit ihre Kooperation an.

 Abbildung 20: Alte S-Klasse von der Seite     Quelle: http://www.mb-w140.de

Die alte S-Klasse war als aristokratischer Fels in der Brandung an ein bestimmtes Weltbild geknüpft, und sie blieb damit einer defensiv-reaktionären Haltung verhaftet. „Das Ende des guten Patriarchen“ (Schröder 2001) löst im heutigen Kontext Mitleid aus, und drückt zugleich auf verborgene, überhebliche Weise die Freude über das eigene Distinktionsvermögen aus. So kann man heute sagen: „Uns fehlt der Dicke schon jetzt“ (ebd.), und in dem Ausdruck erleichterten Beileids mit einem sentimental trauerndem Elefantenbaby könnte ein anderer vermuten, dass man nicht die alte S-Klasse, sondern eher Helmut Kohl meint. Genau so wie inzwischen fest steht, dass es „dem W140 (der alten S-Klasse) besser ergangen wäre, wenn er 5 Jahre früher erschienen wäre“ (Schröder 2001, S. 1), genau so schlecht findet sich auch heute der sture Helmut Kohl mit seiner Vereinnahmung durch eine gläserne, differenzierte Emanzipations- und Medienmaschinerie zurecht.

 Abbildung 21:              Gruppenfoto 2: Alle S-Klassen von 1955 bis 1998         Quelle: http://www.mb-w140.de

Viele sind der Meinung, dass diese S-Klasse (die alte) das letzte von Mercedes entwickelte Modell war, bei dem nicht an Kosten, Gewicht und gutem Material gespart wurde“ (Schröder 2001, S. 1).

 

Für das Phänomen, welches die neue S-Klasse darstellt, spielen materielle Äußerlichkeiten oder Kosten nur noch eine untergeordnete Rolle; vielmehr ist allen klar, dass das Unternehmen durch die verbindliche Historie der S-Modelle als eine Art fixen Ausgangspunkt natürlicherweise die qualitativsten Materialien wählen wird. Diese hintergründige Tatsache bietet nun aber die Basis für neue Aussagen, die nicht mehr technischer, sondern leidenschaftlicher Natur sind. So lautet das Motto zum Launch der neuen S-Klasse (nun: S-Class) Sense & Sensibility, eine enthusiastische Aufforderung zum Teilen der Emotionen.

 Abbildung 22: Neue S-Klasse von hinten     Quelle: http://www.mb-w140.de

Und da Gefühle nun mal für alle da sind, können auch alle an ihnen teilhaben. Der massenhaften Verfüg-barkeit der Waren entspricht die massenhafte Verfüg-barkeit der Ästhetik: alle können nun genießen; prinzipiell ist jeder dazu aufgefordert, an der ästhetischen Entwicklung teilzuhaben. Während die alte S-Klasse noch den Klassenkampf zwischen den Mächtigen und den Spielfiguren versinnbildlichte und somit Anlass für Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen den Klassen gab, kennen die neuen Lebensästheten als Unternehmer der reinen Konzeptkunst nur noch stilistische Auseinandersetzungen.

Die Demokratisierung der Technik hat stattgefunden: Handys und Internet scheren sich nicht um den Status ihrer Besitzer. Sie kümmern sich nicht einmal darum, wer sie besitzen darf und wer nicht. Bei der Nutzung des Abfalls für alle kommt es auf die versierte Art der Nutzung an. Die Kompetenz zur intelligenten zeitlichen Auslese der Optionen sowie das simultane Bearbeiten mehrerer Probleme ist an die Stelle der Anhäufung von Wissen und Fähigkeiten getreten. Dazu gehört auch die Kapitalisierung seiner Arbeitskraft und seiner Freizeit – seines Vermögens im wahrsten Sinne des Wortes. Dieses gilt es Gewinn bringend zu pflegen, weiterzuentwickeln und zu verkaufen.

 Abbildung 23: Innenansicht der neuen S-Klasse    Quelle: http://www.mb-w140.de  

Insofern entspricht die sinnliche Erfahrung S-Class einer stimulierenden Kumulierung an Multioptionalitäten („das elektronische Cockpit-Management-System Command optimiert die Bedienung von Autoradio, Telefon, Navigationssystem

und TV-Empfänger“, ... „das neuentwickelte Kombi-Instrument mit Zentraldisplay ermöglicht die individuelle Konfiguration verschiedener Fahrzeugfunktionen und informiert den Autofahrer in leicht verständlicher Form“ (Schröder 2001, S. 1)), welche die Befriedigung der Sinne in allen erdenklichen Lebensbereichen managt.

So kommt das Mobilitäts-Konzept S-Class einer künstlerischen High-End Performance gleich, die sich einem Lebensmodell anpasst, in dem die „traditionellen Grenzen zwischen Arbeit, Arbeiten, Lernen und Entspannung sowie zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre“ (Zucker 2000, S. 8) einer Neudefinition unterzogen wurden. Während die 80er Jahre aus heutiger Sicht eine Zeit des Materialismus waren, in der „betörende Versprechungen noch „What you see is what you get““ (Liebl 2000b, S. 32) lauteten, funktioniert der „kulturelle Kapitalismus“ (Zielcke 2000) nach der postmateriellen Logik „What you see is what you see“ (Liebl 2000b, S. 32).

 Abbildung 24: Alte S-Klasse von hinten            Quelle: http://www.mb-w140.de

Das Erlebnis liegt nicht im Besitz, sondern im Sehen, Fühlen und Verstehen. Es geht niemandem mehr um eine Gefangenenübergabe an einer Autobahnraststätte, es geht nicht mehr um die Funktion eines Panzerfahrzeugs am Checkpoint Charlie, es geht nun in Gänze „um das Wohlbefinden der Passagiere“ (Schröder 2001, S. 1), um die luxuriöseste Art der Sicherstellung und Befriedigung der eigenen Lust. Insofern bittet die neue S-Klasse in sense & sensibility um Verstehen und Verstandenwerden, anstelle der patriarchalischen Doktrin des Insassenschutzes. Musste man die alte S-Klasse besitzen, um ihr auch vertrauen zu können, liegt die neue Bequemlichkeit im Leasing der Emotionen. Und von der neuen S-Klasse erwartet niemand, dass sie einen das ganze Leben lang begleitet.

 Abbildung 25: Neue S-Klasse von der Seite               Quelle: http://www.mb-w140.de

Hat die alte S-Klasse den Abstand zwischen der Demokratie und den Entscheidungsträgern als Elite despotisch manifestiert, erfüllt die neue S-Class den gesellschaftlichen Anspruch der postmodernen Demokratien nach Transparenz der Politik, flachen Hierarchien in den Unternehmen und unmittelbarer Nähe zu den eigenen Entscheidungen. Die neue Hochtechnologie als Multitasking im Cockpitformat „versetzt den Fahrer in die Position eines Piloten“, wo doch „durch die ganzen elektronischen Neuheiten das Auto schon fast von alleine fliegt“ (o.V. 2001, S. 1). Und da nun jeder als eigener Entscheidungsträger durch sein Lebensmenü navigiert, lädt die neue S-Klasse zum Ausflug in die Natur mit den Kindern ein (vgl. die aktuelle Werbung für den S 400 CDI) und funktioniert gleichermaßen als Oase der Ruhe im zeitknappen Transport des Managers von HH nach B.

Die Demokratisierung der Ästhetik mit der Umwandlung der Gesellschaft in einen sozial gerechten Staat gleichzusetzen, würde sich als Fehlinterpretation erweisen. Die Zeichen mittels derer man sich bedient um die eigene Zugehörigkeit auszudrücken haben sich nur verändert: vom Protz und dem materiellen Größenwahn zu sehr viel subtilerem Design, welches nun die eben mehr oder weniger vorhandenen Mittel zu Gestaltungschancen formuliert. Insofern kneift sowohl S-Klasse als auch S-Class vor der Möglichkeit der Installation anderer Verhältnisse (dieses Feld bleibt nach wie vor der Politik und der Kultur vorbehalten). Die Ungleichheit der Gesellschaft selbst wurde einer Ästhetisierung unterzogen.

Und selbst bei einem Buch wie dem Kunstband zur neuen S-Klasse, geht es nicht um das Aufzeigen der Möglichkeit zur Dissidenz, sondern darum, wie das darin dargestellte theoretische Potential zur Dissidenz der Homogenität und der Integrität der S-Klasse zuarbeiten. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass Kontext sehr viel mit geschichtlichem Wissen zu tun hat, weswegen im Fall des S-Klasse Kunstbandes die Ideologie jegliches Potential zu einem Anti immer wieder ins  Pro re-inszeniert. Das ganze erinnert an jemanden, der zum 20sten Mal in Folge sein Zimmer in dunkelgrau streicht. Und jedes Mal schwört er sich, dass beim nächsten Streichen eine andere Farbe drankommen soll. Da er sich beim Hornbach nicht entscheiden kann, welche Farbe er wählen soll, kauft er alle vorhandenen bunten Farben. Als Schwabe will er zuhause aber keine Farben wegwerfen und mischt daher alles zusammen. Und wieder gestaltet sich das Zimmer im hassgeliebten Grau. 

 

Life’s what you make it

Werbespruch zur Neuen C-Klasse

Obwohl sich eine Automobilproduktion nicht völlig ihrem Background und ihrer ideologischen Ressourcen entziehen kann, ist sie doch dazu fähig, mittels ihres zersetzenden neuen Markendesigns modernen gesellschaftlichen Aussagen in Form von festgeschriebenen Botschaften zu entsprechen. Wenn sich etwa in der globalisierten Gesellschaft die Schere zwischen den Gewinnern und Verlierern weiter aufgeklafft hat und die materiell erreichte Position von den Besserverdienern durch Mehr- oder Immerarbeit erhalten werden muss, ist es verständlich, dass die postmoderne Betonung von gesellschaftlicher Differenz in der Betonung der Zeit als relevantes Machtinstrument liegt. „Wenn die Verfügung über Geld die über Zeit in gewissem Grad ersetzen kann, dann wird die gesellschaftlich gestiegene Zeitnot sozial ungleich verteilt“ (Garhammer 1999, S. 485).

Es hat eine Ökonomisierung der (Frei-)Zeit stattgefunden, die dem Besitz von Geld zu entsprechen beginnt; die neue S-Klasse fügt sich hervorragend in das elegante Weltbild eines Leitsatzes à la „everybody can make it“ oder einem „just do it“ ein. Als Schaltzentrale, die zusätzlich zum zeiteffizienten (schnellen) Transfer u.a. das Telekonferenzen abhalten, das Navigieren, Stauumfahren oder Fernsehen ermöglicht, versinnbildlicht sie so perfekt wie kein anderes Transportmittel die smarteste Art, seinen Zeitwohlstand zu vermehren. Und damit gilt auch hier die gesellschaftliche Priorität der Wohlverdienenden und der Privatpatienten, die bestimmte Arbeiten (Kochen, Waschen, Bügeln, Putzen) durch Zeiteinkäufe von anderen wettmachen können, und die den sonst obligatorischen Wartezeiten beim Arzt aus dem Weg gehen können, weil sie über genügend Einkommen verfügen (vgl. Garhammer 1999).

 Abbildung 26: Designstudie zur alten S-Klasse / Fahrstudie der neuen S-Klasse    Quelle: http://www.mb-w140.de

 

Das Wissen um die Bedeutung der Zeichen und die Simultanität der Lebensaufgaben macht jeden potenten User zum demokratischen Freizeitbeschäftigten und stellt die Legitimität einer solchen Existenz nicht in Frage. Jede Minderheit wird in der S-Klasse zum Mainstream, und jede wirkliche Opposition würde sich wohl nach den Zeiten zurücksehnen, als die S-Klasse tendenziell noch auf Eisenbahnschienen und von zigarrerauchenden Wirtschaftsbossen in schwarzen Anzügen gefahren wurde, und sie es im Kriegsfall als Luftschutzbunker mit einem feindlichen Panzer aufnehmen konnte. Die Möglichkeit, zu hassen und nicht einverstanden zu sein, ist hingegen kaum an der filigranen neuen Version der S-Klasse anzuwenden.

Letzten Endes bleibt das Produkt S-Klasse also doch in erster Linie definiert durch die Kapitalisierung der wertvollsten Güter der jeweiligen Generationen und gesellschaftlichen Umstände. Die Prioritäten der Gesellschaft haben sich verändert, beide S-Klassen verwerteten in der angemessensten Art und Weise jeweils die Bedürfnisse der Zeit – die alte S-Klasse ein bisschen zu spät, die neue S-Klasse sogar als Vorreiter der Wünsche ihrer Kunden, indem sie vorhandene Ressourcen aus avantgardistischen Zirkeln nutzte. In ihrer Neudefinition in Stil und Leidenschaft unterscheidet sie sich damit von den chamäleonartigen Wandlungen eines David Bowie (der für die neue S-Klasse in Zeitschriften warb), der in seiner Stilisierung zur sich permanent reflektierenden Pop-Ikone immer die gegebenen Umstände in Frage stellte. So versinnbildlicht  die neue S-Klasse Pop auf der Schwelle zur eigenen Auflösung. Warum also sollte man noch eine S-Klasse fahren? Sie fahren zu sehen ist doch viel angenehmer!

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